popkulturjunkies charts-kritik (26. februar 2010). 9
Ältere Menschen werden sich erinnern: An dieser Stelle gab es vor gefühlt drei Jahrzehnten mal eine beliebte Rubrik, in der ich wöchentlich kleine Meinungen zu den New Entries der deutschen Single-Charts abgegeben habe. Die Rubrik wurde dann aus Lust- und Zeitlosigkeit eingestellt, der Verlust seitdem aber immer wieder mal beweint. Und weil hier in diesem Blog derzeit viel zu wenig los ist, habe ich mir gedacht: Es muss wieder Charts-Kritiken geben. Ab sofort beschimpfe ich also wieder die Käufer und Fans der Mainstream-Musik und bejuble die wenigen Perlen, die es in die Charts geschafft haben. Hier sind sie also – die Neueinsteiger der deutschen Single-Charts von heute:
090 Fettes Brot – “kontrolle”
Die inoffizielle Stasi-2.0-Hymne. Lobenswerter Text, nette Musik, geht ins Ohr. Das einzige Problem, dass ich mit dem Song habe, ist die verzerrte Stimme, auch wenn sie wahrscheinlich den Inhalt des Songs unterstreichen soll. Insgesamt also ein solider Fettes-Brot-Song, 7 von 10 Punkten.
082 Brings – “poppe, kaate, danze”
Karneval. Auch wenn ich seit ein paar Jahren zugereister Rheinländer bin, ich kann mit Karneval nichts, aber wirklich gar nichts anfangen. Einen sehr großen Anteil daran hat die Musik. Wenn am Rosenmontag morgens die ersten Wagen an meiner Wohnung vorbei Richtung Altstadt fahren und mich von der Straße mit unfassbar nerviger Musik belästigen, hab ich schon keine Lust mehr, das Haus zu verlassen. Und ich wohne noch nichtmal in Köln – da ist alles ja noch viel schlimmer. Dass ich mit dieser Meinung wohl zu den Außenseitern gehöre, zeigt ein Blick auf die Charts dieser Woche. Platz 13: Höhner. Platz 23: Brings. Platz 26: Bläck Fööss. Platz 50: Brings. Platz 51: Höhner. Platz 61: Brings. Platz 70: Brings. Platz 72: Brings. Platz 75: Höhner. Platz 82: Brings. Platz 89: Höhner. Platz 93: Bläck Fööss. Platz 95: Bläck Fööss. Platz 100: Höhner. 14 der 100 Charts-Positionen gehen also an drei Kölner Bands. Was die Sache interessant macht, ist die Tatsache, dass vor allem der technische Fortschritt daran Schuld ist. Denn: Ohne Download-Shops wäre es nicht dazu gekommen. Welche CD-Läden hätten schon all diese 14 Maxi-CDs vorrätig gehabt? 8 der 14 Songs sind sogar nur mit ihren Downloads in die Charts gekommen – ohne jeglichen CD-Verkauf. Oh. Ich schweife ab. “poppe, kaate, danze” ist natürlich indiskutabler Scheiß. Und das schreibe ich nicht nur als Düsseldorfer. 2 von 10 Punkten.
044 Bryan Adams – “one world one flame”
Was ich übrigens weiterhin spannend finde, ist die Tatsache, dass vier der fünf New Entries dieser Woche nicht als CD erhältlich sind. Nichtmal Bryan Adams. Obwohl der doch inzwischen eine Zielgruppe von gefühlt 99% Ãœber-60-Jährigen haben dürfte. 21 der Top-100-Songs gibt es nicht auf CD. Ich bin gespannt, wann es zum ersten Mal über 50 der 100 sind. Ich schweife schon wieder ab? Ist doch wurscht, über diese routinierte Schnulze, die die ARD sich als Olympia-Song ausgesucht hat, braucht man eh nicht viel mehr zu schreiben als “Gääääääähn”. 3 von 10 Punkten.
038 Fettes Brot – “jein”
Wenn Bands eigene Songs neu interpretieren, dann kommt dabei meistens Mist heraus. Oder eine langweilige Unplugged-Version. Fettes Brot hat “jein” nicht unplugged neu aufgenommen, sondern eher das Gegenteil davon unternommen: Der Song wurde ordentlich angefüttert. Mit Soundeffekten, einem pompösen, knallbunten Video, E-Gitarren und vielem mehr. Irgendwie ganz cool. Auch wenn das Konzept, eigene Songs zu covern natürlich etwas uninspiriert wirkt. Dennoch: Wie bei “kontrolle” gibt es freundliche 7 von 10 Punkten.
016 Helping Haiti – “everybody hurts”
Ja, das ist ja auch wirklich schlimm mit diesem Erdbeben und so. Und jede Spende ist wichtig! Aber wenn ich Fratzen wie Rod Stewart, Susan Boyle und Miley Cyrus dabei zusehen muss, wie sie “everybody hurts” verhunzen, kommen mir aus ganz anderen Gründen die Tränen. Hätte man sich nicht irgendeinen Schrottsong aussuchen können? Einen, der eh doof ist? Aber doch nicht “everybody hurts”, das geht doch wirklich nicht. 3 von 10 Punkten.
So. Und weil es diesmal nur fünf New Entries gibt und ich gerade so gut in Fahrt bin, gibt’s als Bonus nun noch meine Meinung zu den Top-Ten-Songs dieser Woche:
010 Bushido – “alles wird gut”
Glücklicherweise ist ja der deutsche Hip Hop mitsamt seiner Inspirationslosigkeit wärend meiner “kleinen” Charts-Kritik-Pause ziemlich den Bach runter gegangen. Bushido ist hier dank seines Kinofilms ne kleine Ausnahme, hat immerhin Platz 10 erreicht. Der Song klingt viel glatter, noch kommerzieller als vor ein paar Jahren. Die Texte bleiben aber derselbe Quatsch und das Gesamtpaket nervt immer noch gewaltig. 2 von 10 Punkten.
009 The Black Eyed Peas – “meet me halfway”
Die Black Eyed Peas haben ja einen ziemlichen Lauf. Einen Granatenhit nach dem nächsten feuern sie raus. “boom boom pow” ist nach 29 Wochen immer noch auf Platz 65, “i gotta feeling” nach 34 Wochen sogar noch auf Platz 24. Und auch “meet me halfway” hat wieder diese Ohrwurm-Momente, denen man nicht entkommen kann. Das ist eindeutig nicht die Musik, die ich mir ständig anhören muss, aber trotzdem muss ich der Band zugestehen, dass sie momentan wahrscheinlich die perfektesten Mainstream-Popsongs veröffentlichen, die man sich vorstellen kann. 7 von 10 Punkten.
008 Aura Dione – “i will love you monday (365)”
Sie hier war ja schon auf Nummer 1. Und ich weiß gar nicht, warum. Der Song ist schon nach einer Minute ziemlich nervig, viel zu viele Textwiederholungen. Aber wahrscheinlich ist genau das der Grund für den Erfolg. Jeder kapiert die paar Englisch-Brocken, die Dänin sieht noch dazu ganz passabel aus, fertig ist also der Hit. Ich mag den Song trotzdem nicht. 3 von 10 Punkten.
007 Owl City – “fireflies”
Apropos “perfekter Popsong”. Das hier ist für mich momentan der wahrscheinlich großartigste Song in den gesamten Charts. Ich bin mir zwar noch nicht sicher, ob man “fireflies” überhaupt gut finden darf oder dann als uncool gilt, aber ich finde den Song grandios. Feinster Elektropop mit Mega-Melodie, der mich total an Ben Gibbards Projekt The Postal Service erinnert. Toll. 9 von 10 Punkten.
006 Stromae – “alors on danse”
Huch. Ein französischer Song auf Platz 6 der deutschen Charts? Gibt’s auch nicht oft. Der Typ hier, halb belgisch, halb ruandisch, wie die Wikipedia mir verrät, war fünf Wochen lang die Nummer 1 im französisch-sprachigen Teil Belgiens. Dass er aber den Sprung nach Deutschland geschafft hat, ist schon spannend. Zumal der Song ja jetzt nicht die Mega-Innovation ist. Ein ziemlich eintöniger, leicht düsterer Disco-Track. Aber irgendwas hat er, der Song. Ich kann nur nicht genau sagen, was. Wahrscheinlich haben das auch die ganzen Käufer gedacht – und ihn dann gekauft. 6 von 10 Punkten.
005 Lady GaGa – “bad romance”
Ich kann den Namen “Lady GaGa” nicht mehr hören. Der Hype war anfangs wegen der durchaus zu Recht an der Spitze der Mainstream-Charts stehenden Songs berechtigt, doch irgendwann nahm er völlig bescheuerte Züge an. “bad romance” ist aber ohnehin die bisher schwächste der Lady-GaGa-Singles. Routiniert runtergespult, “blablabla”-Text aus dem Lyrics-Computer und sauteures Video. Nervt. 4 von 10 Punkten.
004 Unheilig – “geboren um zu leben”
Manchmal weiß ich nicht, wie bestimmt Songs oder Bands in die Gothic-Ecke passen ohne von der Szene ausgelacht zu werden. Da nennt sich der Sänger einer Band “Der Graf”, sein Projekt “Unheilig”, spielt aber einen Schumsesong mit Kinderchor am Ende? Wirklich seltsam. Ich kann einen solchen Song zumindest nicht wirklich ernstnehmen. Obwohl ich früherâ„¢ ja selbst Musik gehört habe, die nicht allzu weit entfernt war: Wolfsheim, Deine Lakaien, um nur einige zu nennen. Für “den Grafen” gibt’s von mir wegen Peinlichkeit bzw. unfreiwilliger Komik aber nur 3 von 10 Punkten.
003 Keri Hilson – “i like”
Ja, irgendwie ein ganz okayer Popsong und so. Wenn er nur nicht der Song zu “Zweiohrküken” wäre – und man Til Schweiger nicht ständig in Frauenklamotten im Video sehen müsste… Aber trotzdem: irgendwie ganz okay. 5 von 10 Punkten.
002 Frauenarzt & Manny Marc (Die Atzen) – “disco pogo”
Für mich wären ja schon die Namen “Frauenarzt & Manny Marc” ein Grund, die Typen mit lebenslänglichem Studioverbot zu belegen. Und dann haben sie mit “Das geht ab” auch noch den nervigsten Song des 21. Jahrhunderts auf den Markt geschüttet. Was dieser zusammengeschusterte Schrott soll – und vor allem: wer diesen zusammengeschusterten Schrott kauft – ich weiß es nicht. Ich will es auch gar nicht wissen. 0 von 10 Punkten!
001 Kesha – “tik tok”
Gegen die 223 Sekunden Lautsprecher-Verbrechen von eben ist das hier ja die reine Wohltat. Zuschauen darf man der Plastik-Kalifornierin allerdings nicht. Und ne Wohltat ist der Song wirklich auch nur dann, wenn man vorher etwas wie “Die Atzen” hören musste. Insgesamt ist er nämlich auch nur eine Aneinanderreihung von Pop-Ideen der letzten Jahre, inklusive kurzzeitiger Stimmen-Elektrifizierung. Irgendwie bin ich zu gnädig heute: 5 von 10 Punkten.
Die gesamte Top 100 lässt sich übrigens jederzeit bei MTV begutachten. Und beim nächsten Mal könnte es an dieser Stelle auch um folgende Songs gehen – wenn das kaufwillige Publikum mitspielt und sie in die Charts befördert:
– Editors – “you don’t love me”
– Marit Larsen – “under the surface”
– Nena – “du bist so gut für mich”
– Westernhagen – “wir haben die schnauze voll”